Nach dem Abschluss der Hohen Schule in Jever und einer dreijährigen Lehre in der Landwirtschaft besuchte Thünen 1802 das von Lucas Andreas STAUDINGER (1770–1842) 1797 auf dem Gutsbesitz des Frhr. Caspar von Voght (1752–1839) in Groß Flottbek bei Hamburg gegründete landwirtschaftliche Erziehungsinstitut. 1803 verbrachte er ein halbes Jahr in der landwirtschaftlichen Lehranstalt des damals führenden deutschen Agrarwissenschaftlers Albrecht Daniel THAER (1752–1828) in Celle. Anschließend schrieb er sich an der Universität Göttingen ein, wo er u. a. agrar- und naturwissenschaftliche, veterinärmedizinische sowie kameralistische Vorlesungen hörte und die nationalökonomischen Lehren Adam SMITHs aufnahm. Nach zwei Semestern brach er das Studium ab, um zu heiraten und Landwirt zu werden.

Zeichnung des Thünenguts von Silvia Werner

Als sich die Bewirtschaftung eines 1806 gepachteten Gutes als Fehlschlag erwies, kaufte Thünen 1809 das 465 ha große Lehngut Tellow im ritterschaftlichen Amt Güstrow. Er machte daraus einen Musterbetrieb, indem er systematisch agrartechnische und -wirtschaftliche Neuerungen aufgriff (z. B. die Mineraldüngung) oder selbst entwickelte (z. B. den Hakenpflug) sowie alle betrieblichen Daten über Jahre akribisch erhob, in einem Rechenwerk festhielt und auswertete (Transkription: E. Gerhardt, T.s Tellower Buchführung, 2 Bde., 1964). Intensiv tauschte er sich mit Familienmitgliedern, Gutsnachbarn und Fachleuten aus und publizierte über 40 Beiträge allein in den „Neuen Annalen der Mecklenburgischen Landwirthschafts-Gesellschaft“ mit dem Ziel, einer „rationellen“, empirisch wie theoretisch fundierten Landwirtschaft zum Durchbruch zu verhelfen, den Produzenten damit ihr Auskommen zu sichern und den Lebensstandard der Bevölkerung zu heben. Um hierfür Rahmenbedingungen zu schaffen, unterbreitete er Vorschläge wie die Einführung eines effizienteren und gerechteren Steuersystems, die Reduzierung von Staatsschulden durch Privatisierung öffentlicher Vermögen, die Einführung eines Hypothekar-Kreditsystems im Agrarsektor, den kreditfinanzierten Ausbau der Verkehrswege, die Förderung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung an den Schulen oder die Etablierung der Ökonomik als Universitätswissenschaft.

T. wurde in seinen sozialreformerischen Absichten stark beeinflusst durch Lorenz v. STEINs (1815–90) Studie „Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs“ (1842). Fürchtend, die Revolution könnte auf Deutschland übergreifen, forderte T., Staat und Gesellschaft grundlegend zu reformieren und v. a. die Vorrechte der „Geld- und Geburtsaristokratie“, der er selbst nicht angehörte, abzuschaffen. Im Geiste Kants und Hegels glaubte er an die „Vervollkommnung des Menschengeschlechts“ durch aufklärende Vernunft, bürgerliche Emanzipation und moralische Erziehung. Politisch forderte er die Einheit Deutschlands in einem Bundesstaat mit konstitutiver Monarchie und parlamentarischer Volksvertretung, gab jedoch 1848 aus gesundheitlichen Gründen sein Mandat für die Frankfurter Nationalversammlung zurück.

In seinem wissenschaftlichen Hauptwerk „Der isolirte Staat in Beziehung auf Landwirthschaft und Nationalökonomie“ (3 T., 1826–63), dessen Grundgedanken er schon 1803 in einer Schularbeit formuliert hatte, behandelte er (agrar)ökonomische Probleme mit zwei Methoden, die seitdem zu den Standardwerkzeugen der Forschung gehören, dem Konzept der isolierenden Abstraktion und dem Marginalprinzip. T. entwickelte ein Modell, in dem eine isolierte Stadt als zentraler Markt konzentrisch von den Erzeugern verschiedener Agrarprodukte umgeben ist („Thünensche Ringe“). Deren Entfernung zum Absatzmarkt und Preise bestimmen sich durch eine Reihe möglichst realitätsnah gewählter Faktoren (etwa Kuppelproduktion, Transportkosten, Verderblichkeit der Waren) in Verbindung mit einem Modell, das die Komplexität ökonomischer Zusammenhänge reduziert (gleiche Fruchtbarkeit des Bodens, gleicher Reallohn u.a.). Damit gab T. sowohl der Standort- und Raumwirtschaftslehre als auch der Wirtschaftsgeographie wichtige Impulse. Eine ebensolche Pionierleistung gelang ihm, indem er zur Optimierung der Umschlagszeit der Waldnutzung herausstellte, dass diese bei knapper Fläche an der Maximierung des Bodenrenten auszurichten sei. Um die Bedingungen optimaler wirtschaftlicher Entscheidungen exakt angeben zu können, betrachtete er unendlich kleine (marginale) Änderungen (Grenzwerte) funktional miteinander verbundener quantitativer Größen, was die Anwendung der Infinitesimalrechnung ermöglichte. Dies bewährte sich auch bei dem Versuch, ein allgemeines Gesetz für die funktionelle Verteilung der Einkommen in einer Volkswirtschaft zu finden, das sich von der klassischen Theorie unterschied, weil es symmetrisch für alle Leistungseinkommen gelten sollte (Grenzproduktivitätstheorie). Voraussetzungen zur Erzielung eines höheren Einkommens der Landarbeiter waren nach T. v. a. Freizügigkeit, ungebundenes Grundeigentum, eine begrenzte Kinderzahl und Bildung von Eigenkapital durch Sparen. Für einen derart „naturgemäßen Lohn“ leitete T. eine Formel ab: 

Lohnformel

(a = Subsistenzlohn, p = Durchschnittsproduktivität der Arbeit). T. selbst beteiligte seine Arbeiter an den Gutseinnahmen und verabredete mit 14 anderen Gutsbesitzern und Pächtern, die materielle Lage der Tagelöhner zu verbessern („Roggower Protokoll“).

Nur wenige Zeitgenossen erkannten, wie originell und wegweisend T. dachte. Dies änderte sich erst nach seinem Tod mit dem Aufkommen der neoklassischen Grenzproduktivitäts- und Grenznutzen-Schulen ab Ende des 19. Jh. bis Anfang des 21. Jahrhunderts, wie z.B. die neueren Beiträge des amerikanischen Nobelpreisträgers Samuelson 1983, 2006 und 2008/9 belegen. Inzwischen gilt T. weltweit als einer der bedeutendsten Ökonomen mit bleibenden Leistungen. Davon zeugen u. a. das Schrifttum und viele Einrichtungen, die seinen Namen tragen. T.s Erbe wird gepflegt von eigens gegründeten Gesellschaften in Deutschland, Japan und den USA, dem Museum auf seinem als Ensemble erhaltenen Gut in Tellow sowie Archiven in Rostock (seit 1901/02) und Hohenheim (seit 1960). Außer seinem wirtschaftstheoretischen Werk wurde um die Jahrtausendwende vermehrt auch sein sozialphilosophisches und politisches Denken rezipiert (vor allem durch W.W. Engelhardt).

Literatur: 

Rieter, Heinz, „Thünen, Heinrich“ in: Neue Deutsche Biographie – Thünen, Heinrich (deutsche-biographie.de) Band 26 (2016) S.208-211.

Nellinger, Ludwig, „Johann Heinrich von Thünen (1783–1850),“ in: Gilbert Faccarello & Heinz D. Kurz (ed.), Handbook on the History of Economic Analysis Volume I (2016), chapter 23, pp 157-163. Edward Elgar Publishing.